Ganz unten... Gespräch mit Reinhardt O. Hahn
Alkoholismus: Zurück von ganz unten
Halle (Saale)/MZ. - Ich bin Reinhardt Hahn. Ich bin Alkoholiker." An dem Tag, an dem der heute 64-Jährige diesen Satz erstmals öffentlich ausspricht, ist er schon anderthalb Jahre trocken. Seit dem 14. Januar 1982 sind Bier und Schnaps für ihn tabu. Über seine Sucht hat der Mann einen Roman geschrieben - "Das letzte erste Glas". Daraus liest er an jenem Tag in einem Brandenburger Krankenhaus. Vor 500 Zuhörern. Es ist nicht die erste Lesung. Doch noch nie hatte er zugegeben, dass es in dem Buch um ihn selbst geht. "Ich wurde rot im Gesicht. Ich habe gebrannt am ganzen Körper. Aber ich habe es gesagt." Für ihn ein entscheidender Schritt. "Sich lediglich still einzugestehen Alkoholiker zu sein, hilft nicht, dauerhafte Abstinenz zu erreichen", sagt Reinhardt Cornelius-Hahn, wie er seit seiner Eheschließung heißt, und spricht bis heute in Lesungen über sein erstes Leben, "das völlig verkehrt ...
Von Bärbel Böttcher
24.02.2012, 17:47
30 Jahre Kapitulation vor der Sucht
Ich bin Reinhardt Hahn. Ich bin Alkoholiker." An dem Tag, an dem der heute 64-Jährige diesen Satz erstmals öffentlich ausspricht, ist er schon anderthalb Jahre trocken. Seit dem 14. Januar 1982 sind Bier und Schnaps für ihn tabu. Über seine Sucht hat der Mann einen Roman geschrieben - "Das letzte erste Glas". Daraus liest er an jenem Tag in einem Brandenburger Krankenhaus. Vor 500 Zuhörern. Es ist nicht die erste Lesung. Doch noch nie hatte er zugegeben, dass es in dem Buch um ihn selbst geht. "Ich wurde rot im Gesicht. Ich habe gebrannt am ganzen Körper. Aber ich habe es gesagt." Für ihn ein entscheidender Schritt. "Sich lediglich still einzugestehen Alkoholiker zu sein, hilft nicht, dauerhafte Abstinenz zu erreichen", sagt Reinhardt Cornelius-Hahn, wie er seit seiner Eheschließung heißt, und spricht bis heute in Lesungen über sein erstes Leben, "das völlig verkehrt war".
1953 geht die Familie, zu der sechs Kinder gehören, in den Westen. 1959 lassen die Eltern sich scheiden. Der Vater zieht mit den drei Jüngsten, darunter der damals Zwölfjährige, zurück in den Osten. Kurze Zeit später stirbt der Vater. Doch da ist die Mauer bereits zu. Die Kinder können nicht wieder zur Mutter. "Wir waren politische Vollwaisen." Mit 15 versucht Reinhardt Hahn, in den Westen zu fliehen. Er wird erwischt. Kommt nach Kyritz in ein Kinderheim. In seiner Erinnerung eine bedrückende Zeit ohne Liebe und Geborgenheit. Dafür voller sozialer Stigmatisierung. "Wir mussten Kleidung tragen, die irgendjemand gespendet hatte." Seine Wäschenummer - die 21 - hat er noch heute im Kopf. Er beginnt in Brandenburg eine Lehre als Elektromonteur. Wechselt noch einmal. Geht nach Leuna und wird Chemiefacharbeiter.
Der junge Mann macht schnell Karriere. Als stellvertretender Schichtleiter hat er 13 Kollegen unter sich. Alle älter als er. Geborgenheit findet er zu diesem Zeitpunkt in der Partei. "Ich war ein Glühender", sagt Reinhardt Cornelius-Hahn. Er absolviert die Parteischule, wird mit 26 Jahren Nomenklaturkader der Bezirksleitung Halle der SED. "Die Partei war für mich ein großer Ersatz, Mutter- und Vaterersatz." Doch er kann sich nicht gut anpassen, sagt, was er denkt, will sich von anderen nicht dominieren lassen und tritt zuweilen cholerisch auf. Das kommt nicht gut an. Als er 1976 bei einer Auseinandersetzung sein Parteibuch zerreißt, wird er von "Mutter und Vater" verstoßen. Er fliegt aus der Partei und verliert seine Stelle in Leuna. Reinhardt Hahn kann zu dieser Zeit sein Leben nur ertragen, wenn er sich selbst betäubt. Mit Alkohol. Bereits als Funktionär hat er nicht wenig getrunken. Bis zur Sucht ist es nun nur noch ein kurzer Weg.
Konflikt- und Erleichterungstrinken nennt der Psychiater dieses Verhalten. "Es gibt im Gehirn eines Menschen einen Funktionskreis, der als inneres Belohnungssystem bezeichnet werden kann", erklärt Bernd Langer, Chefarzt des AWO-Psychiatriezentrums in Halle. "Wenn uns etwas Gutes widerfährt, wird es aktiviert und schüttet körpereigene opiatähnliche Substanzen aus. Die wiederum versetzen uns in einen angenehmen Zustand." Auch Suchtstoffe wie Alkohol, so der Mediziner, würden dieses Belohnungssystem aktivieren. Der Mensch mache die Erfahrung, dass beispielsweise berufliche Anspannung nachlasse, wenn er am Abend drei, vier Bier trinke. "Und das führt bei manchen Menschen dazu, dass sie diesen Zustand immer wieder herbeiführen wollen und so süchtig werden."
Um den Zustand der Erleichterung zu spüren, braucht Reinhardt Hahn immer größere Mengen Alkohol. Erst Bier, dann Schnaps und Likör. Das höchste Quantum sind drei Flaschen Schnaps am Tag. Aber da ist er schon ganz am Ende. Zunächst hält der Mann sich mit Hilfsarbeiten über Wasser. Überall fliegt er nach kurzer Zeit raus. Er wechselt häufig Wohnungen und Wohnorte, zieht zu immer anderen Frauen, die ihn bemuttern. Zweimal heiratet er. Es entstehen vier Kinder. "Die Frauen haben geglaubt, dass sie die Kraft haben, mich mit Liebe zu ändern", sagt er. Aber das sei bei einem Alkoholiker vergeblich. "Meine Gedanken drehten sich nur um das eine: Wie komme ich an Geld, um neuen Stoff zu besorgen." Waschmaschine, Schleuder, Möbel - alles habe er verkauft. So stark sei der Saufdruck gewesen.
In klaren Momenten spürt Reinhardt Hahn, dass er sich auf einer sozialen Talfahrt befindet. Er will da raus. Beginnt sogar ein Literaturstudium in Leipzig, das er erst viel, viel später beenden wird. Und er versucht, das Trinken durch andere Suchtmittel abzulösen. Aber er findet immer wieder neue Ausreden dafür, dass er Trinken muss. Schuld sind der Staat, die Weiber, die miese Arbeit.
Reinhardt Hahn ist das, was der Volksmund einen Quartalssäufer nennt. Er kommt manchmal längere Zeit ohne Alkohol aus. In dieser Zeit redet er sich ein, gar kein Trinker zu sein. Es geht ja. Dabei sagt ihm sein vergifteter Körper längst etwas anderes. Der leidet. Ungefähr 35 Zusammenbrüche durch Alkoholvergiftung und Medikamentenmissbrauch zählt Reinhardt Hahn. Er hat mehrfach Halluzinationen, sieht Drachenköpfe in der Wand, jagt schleimige Vögel.
"Das sind klassische Entzugserscheinungen", sagt Bernd Langer. Die könnten schlimmstenfalls zu einer Bewusstseins-eintrübung führen. Die Psychiatrie spricht dann von einem Alkohol-Delir. "Das ist ein medizinischer Notfall, der ohne Behandlung oft tödlich verläuft", erklärt Langer.
Am Anfang des Jahres 1982 ist Reinhardt Hahn ganz unten angekommen. 14 Tage lang zecht er durch, belohnt sich dafür, dass er Silvester und Neujahr nicht zur Flasche gegriffen hatte. Durch eine glückliche Fügung kommt er in diesem Zustand zur Stadtmission in Halle. Es ist der 14. Januar 1982. "Ich war genau an dem Punkt, an dem ich mir sagte, entweder du stirbst jetzt oder du versuchst es ohne Alkohol. Ich habe gelitten." Noch an diesem Tag unterzeichnet er eine Erklärung, in der er sich vor dem lieben Gott, der anwesenden Diakonin und vor sich selbst verpflichtet, zunächst drei Monate keinen Alkohol zu trinken. "Der liebe Gott war mir egal, die Diakonin war mir egal - aber über den Reinhardt bin ich gestolpert", sagt er. Irgendwo in seinem Unterbewusstsein sei die Frage aufgetaucht: Was tust du dir eigentlich an? Warum gehst du so kalt und lieblos mit dir um? Die drei Monate hält er durch. Daraus sind inzwischen 30 Jahre geworden. Das schaffen nur wenige.
Anfangs ist es nicht einfach. "Ein Alkoholiker muss die Abstinenz lernen", sagt Reinhardt Cornelius-Hahn. "Der Suchtdruck ist so stark, so unmittelbar und so total." Die ersten drei bis fünf Jahre sei es wirklich wichtig, keine Kneipe zu gründen, in der Kaufhalle nicht dahin zu gehen, wo der Schnaps steht und auch zu Hause nicht einen Tropfen zu haben. "Das ist tödlich." Ihm helfen über Jahre die Treffen der Selbsthilfegruppe in der Stadtmission. Heute sind es die Lesungen. Allein im vergangenen Jahr waren es etwa 25.
"Ich habe mir die Abstinenz geschenkt", sagt Reinhardt Cornelius-Hahn. "Alkohol gehört nicht mehr zu meinem Leben." Das machen jetzt ganz andere Dinge aus: Er lebt seit vielen Jahren in einer glücklichen dritten Ehe, aus der 1984 eine Tochter hervorgegangen ist. Vor etwas mehr als fünf Jahren hat er seiner Frau eine Niere gespendet. Er leitet in Halle einen Buchverlag, trägt für knapp 30 Mitarbeiter die Verantwortung. Im März eröffnet er in Halle ein Buch- und Kunsthaus. "Heute bin ich süchtig nach Sinnerfüllung, nach Gestaltung", sagt er. Und räumt ein: "Ich habe Glück gehabt. Mir ist das Leben wiedergegeben worden - wie einem Baum, der verdorren wollte."
Über das Loslassen, Neinsagen oder auch das Kapitulieren Unser Verstand, auch mein Verstand, wird mit ständiger Anregung beschenkt. Das passiert ganz einfach. Dafür sorgen fünf Sinne. Jeder kennt sie, Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken. Was machen diese Sinne mit mir? Sie sorgen dafür, dass ich die Welt ringsum sortieren, verstehen und auch entdecken kann. Das kann jeder. Wir sind neugierig, interessiert, auch beschützt. Alles machen unsere Sinne, sie wollen oft aber auch wissen, was sich hinter den Dingen, Sachen, Ländern, ja sogar der ganzen Welt versteckt. Dafür haben wir eben unseren Verstand, der sich erinnern, der vorausdenken und sogar Vorgänge, die noch nicht passiert sind, untersuchen kann. Jeder kennt sie, die Wissenschaft, die Erlebnisbereiche, die Erfahrungen und natürlich die Fantasie. Damit kommen wir alle gut zurecht, bis, ja, bis sich Hindernisse, Probleme, Konflikte und Erfahrungen gegen unsere Neugier oder unser Wissen stellen. Natürlich kann man sich helfen lassen, da gibt es die Gesellschaft, die uns bei allem hilft, was uns fehlt: Erziehung, Schule, Studium, Beruf, ja aber auch Liebe, Zuneigung und Anerkennung. Dazu kommen noch Spiel, Spaß und Witz und man könnte meinen, dass ist der Lack, der die Welt zusammenhält. Das ist zuerst richtig, wird aber gefährlich und problematisch, wenn unsere Wünsche, unser Neugier und auch die Fantasie auf all das verzichten will, was wir besitzen und haben. Besonders wichtig ist unsere Leibhaftigkeit. Was ist eigentlich der Leib, der Körper oder man kann auch sagen: Wer ist ICH? Ich weiß, mein Leib ist mein Zuhause. Ich habe für Kinder vor Jahren geschrieben: Mein Leib ist mein Zuhause, darin wohne ich, fühle ich, denke ich und ich kann und darf ihn nicht verlassen. Aber, der Schmerz, die Sucht(Suche), die fehlende Erfahrung und mangelndes Wissen zerstören mein HAUS. Der Verstand in meinem Leib erfährt viel Neues, darunter auch die Herabwürdigung und das Fehlen seines Selbstwertes. Mein Verstand ist ständig und fast immer dem ausgesetzt, was gerade geschieht. Man kann es auch den Alltag, den Augenblick oder das Jetzt nennen ausgesetzt. Ein Mensch kommt einfach von sich nicht weg. Sein Haus, also der Leib, kann auch sein Gefängnis werden. Die Sinne sind nicht nur augenblicklich immer da, sie sind auch alle animalisch, also tierhaft. Wir können auch nicht so tun, als gebe es die Eindrücke der Sinne oder das Geschehen um uns herum nicht. Aber, wir Menschen haben ein Gedächtnis, damit kann man Pläne schmieden. Wir vergessen vielleicht das, was uns nicht passt, aber das, was uns gefällt, das bewahren und pflegen wir. Erinnerungen sind gut oder schlecht, weil man sich an Glück gern erinnern möchte, anders ist es mit dem Pech. Das eine möchte man gern wiederholen, das andere vermeiden. Sonst geht es uns allen gut, fast allen Menschen an den Orten, in denen wir leben. Das ist bei mir auch so, aber, es war nicht immer so. Vor 41 Jahren, ich war damals 35 Jahre alt, stand also mitten im Leben, da hatte ich alles verloren oder abgegeben, auch die Hoffnung auf kommende Zeiten oder ich nenne es einfach mal die Zukunft. Damals war ich ein nasser Trinker, medikamentenabhängig und Kettenraucher und fühlte mein Lebensende kommen. Ich stürzte in ein Prädelir ab. Das ist, wenn alle Sinne versagen und auch der Leib sein Leben aufgeben müsste. In dieser Zeit, wie gesagt, es war vor über vierzig Jahren, fand ich eine Gruppe von Menschen, die der Sucht und Suche nach vermeintlichem Glück abgeschworen hatten. Sie waren nüchtern geworden. Drei bis fünf Jahre waren sie mein Vorbild, und ich habe Tag für Tag trocken gelebt. Ich war ständig auf der Suche nach einem neuen Glück oder man kann es auch, ein anderes Leben nennen. Ein Leben ohne Krankheit und Tod schien mir noch Lebenswert, anderes nicht. Heute nenne ich diese Suche den schweren Weg zur klaren Quelle des Nüchtern-Seins im Verstand. Ich kann auch sagen, es war die Suche nach dem Wasser in der Wüste des Ausgestoßen-Seins. Ausgegrenzt, entwürdigt, kaputt: Der ist schon tot. Eine Leiche, die vergessen hat, zu sterben. Das ist jetzt bald 42 Jahre her. Ich habe begriffen, was das ist und bedeutet, zu kapitulieren. Aufgeben, loslassen, nein sagen um endlich das Überleben in mir selbst zu finden. Das Überleben ist ist in meinem Leib zu Hause, nicht in meinem Verstand, der ständig nach Neuem oder anderen Dingen giert. Es gab und gibt für mich heute keinen Ort mehr, wo ich mich verstecken oder verkriechen könnte oder wollte. Dieser Ort Nirgendwo ist überall. Er ist das Zuhause in mir. Zum Leben brauche ich nichts, gar nichts, ich brauche nur mich. Ich bin kein Egoist, aber ich bin einer, der sich selbst durch Kapitulation neue Lebenshilfe gegeben hat. Nur so geht es. Lebenshilfe ist keine Willensfrage, sondern nur eine Einsicht, sich selbst zu bewahren und anderen zu helfen, um mit dem Leib durchs Leben zu kommen. Versteht ihr mich? Natürlich... und jetzt erzähle ich, was ich alles mit diesem Kapital, das mir durch meine Kapitulation vor der Sucht geschenkt wurden begonnen habe. 1. Mir selbst geholfen 2. Anderen geholfen 3. Gearbeitet, geliebt und Kinder in die Welt gesetzt 4. Drei Bestseller geschrieben 5. Bücher für Kinder verfasst 6. Tatsächlich als rettender Sponsor mehr als zehn Menschen gerettet 7. Eine Firma gegründet und 40 Menschen Arbeit und Ausbildung gegeben 8. 2.000 mal vor fremden Menschen über Sucht gesprochen 9. Die Welt kennengelernt und gesund geblieben und 10. mehr als 15.000 Tage früh aufgestanden mit dem Satz: Heute trinke ich nicht!

Zeugnis 20 Jahre Enthaltung Reinhardt 0. Cornelius-Hahn nach vierzig Jahren. Geschrieben 2002 im Januar. Es ist gewiss sehr schwer, über sich selbst etwas Ausgeglichenes und Vernünftiges zu sagen, etwas, was auch noch Mitteilungswert ist. Ich möchte über ein Zitat sprechen, dass ich im Autorenheft als Schriftsteller mir vorangestellt habe: Keiner hat nur gesagt, wie ich leben soll. Hinzufügen möchte ich heute: Keiner hat mir gesagt, wie ich leben darf! Folgerichtig hat mir auch keiner gesagt, was ich heute sagen soll. Als ein Mensch, der im Augenblick lebt, ich nenne es auch im absoluten Jetzt leben“ weiß ich, was ich heute fühle und was ich jetzt sagen möchte. Eigentlich sind es nur zwei Dinge, die ich zu sagen habe: Ich freue mich über meinen nüchternen Verstand und ich freue mich darüber, das ich heute nicht trinke. Ein Selbstgebot, dass ich vor zwanzig Jahren mit meinem Betreuerin Melitta Duscha vereinbart habe. Falls ich mich richtig erinnere, stand auf dieser Vereinbarung geschrieben: In aller Aufrichtigkeit vor Gott, dem Herrn und vor mir selbst verpflichte ich mich, drei Monate keinen Alkohol zu trinken Unterschrift - Melitta Duscha und Reinhardt 0. Hahn. So begann das mit meiner Nüchternheit im Verstand. Vieles war dem vorangegangen. Am 14. 01. 1982 erwachte ich Spätnachmittags. Meine Haut war heiß und trocken, mein Verstand erhitzt. Die Gedanken flitzten durch den Kopf, eilig und nicht zu packen. Bauch, Nacken und Arme zitterten nicht, sie rüttelten mich durch wie beim schweren Schüttelfrost. Ich war in einer fremden Wohnung. Wie, ich wusste es nicht. Wieder mal - wie schon so oft. Trinken, reden, trinken reden und dann nur, noch trinken, trinken, trinken, bis die Erinnerung weg war. Gamma-Trinker oder verständlicher Periodentrinker oder noch verständlicher Quartalssäufer. Wobei die Quartale zeitlich immer kürzer wurden. Monatssäufer - das klingt aber nicht so gut. Das versteht auch nicht jeder. Ich war dabei, meine Chancen abzuwägen. Da war aber nicht viel. Wieder trinken bedeutete, den Schritt vom kleinen Tod zum großen Tod zu wagen. Fast 40 kleine Tode waren vorangegangen. Mein Körper hatte mich satt. Es kotzte und schiss aus mir. Suizid war das nächste, gedankliche Angebot. Dazu war ich an diesem Tag zu feige und zu schwach. Abklappern, die Angst vor dem kalten Entzug ließ mich nach Alkohol und Medikamenten suchen. In diesem Raum fanden meine Augen nichts. Da war die Erinnerung: Erwachen in der Klinik. Erwachen aus dem Prädelir. Erwachen im Dreck, Erwachen in fremden Betten Da war noch ein Angebot, die Abstinenzgruppe der Stadtmission. Alles zusammen erbrachte eine heftige Reaktion in mir, die sich aus dem Schämen, der Wut und der Angst zusammengesetzt hatte. Das Angebot, Alkoholiker zu sein, es zuzugeben. Ein trockener Trinker ist besser als ein toter Trinker. Ich bemitleidete mich, ich weinte um mein verlorenes Leben. Es war ein so sinnloses, leeres, kaputtes Leben. An diesem Tag war ich fast 35 Jahre alt. Zweimal geschieden. Ich war wieder bei den vermeintlichen Ursachen. Ein Kind des Hungers, 1947 geboren. 1953 die Flucht mit den Eltern aus der Ostzone nach Westberlin. Die Kindheit im Westen. Meine Spitz- und Kosenamen: Zahnloseminka, Professor, Hähnchen und Otto. Otto gefällt mir noch heute. Ich weiß es noch genau, um mit Hans Falladas Worte zu sprechen: Ich hatte am 14.01.1982 wieder die Möglichkeit - dem Kleinen Tod zu entrinnen, um in den großen zu flüchten. Ich hatte aber auch Alternativen. Sie aber schienen mir unmöglich. Ich dachte an meine Tochter Simone. Sie war im Hort. Ich nahm es jedenfalls an. Aus diesem Bett kroch ich in das Bad. Diese fremde Wohnung war wie jede fremde Wohnung in der Plattensiedlung. im Bad, hinter dem Wäschekorb (ich sah sie sofort) entdeckte ich ein halbes Dutzend Flaschen „Schwarzer Porter“. Die hätte ich in diesem Augenblick am liebsten zugleich getrunken, gelacht und geweint. Im Spiegel sah ich meine Fratze. De Flaschenverschlüsse gaben nicht nach. Ich schlug den Flaschenhals an der Fensterkante ab. So stand ich da. Unbekleidet, vom Entzug geschüttelt, die Flasche in der Hand vor dem Spiegel. Ich war mir unerträglich. Wieder ging mir die Entscheidung durch den Kopf: Aus, Schluss, Weitertrinken und danach Schluss. In diesem Augenblick war ich so verzweifelt wie noch nie meinem Leben. ich wusste ja, wie es kommen würde. Das Scham- und Schuldgefühl peinigte mich heftig, die Angst vor dem Entzug ebenfalls. Ich heulte wie ein Hund und ließ die Flasche in das Waschbecken fallen. Das dunkle, süße Bier lief vollends aus. Es war eine Schande mit mir. Im besten Alter, mutlos, wehrlos, bindungslos. Los von allem. Los von mir selbst. Bedingungslos zuckte es in Verstand. Ich sah mich an und befreundete mich mit dem Begriff der Kapitulation. Das Trinken aufgeben. Die Hektoliter dieser dieser Welt, die schaffe ich nicht mehr. Kapitulieren und endlich Angebote annehmen. Es gab aber nur das eine Angebot. Es war die erste vernünftige Handlung seit Jahren. Vielleicht war es überhaupt die vernünftigste Handlung in meinem Leben. Es los zu lassen, was ich zu haben glaubte, was sich aber meiner bemächtigt hatte. Einfach weg vom ersten Schluck, weg vom ersten Glas. Die Flaschen öffnen und ausschütten. Damit beginnen. Zwischen den Scherben taumelte ich wieder in das große Bett. Aufgeben und Angebote annehmen. Diese Gedanken drehten sich ständig im Kopf. Dazu der Entzug. Dazu später diese fremde Frau, die mich aufgesammelt hatte. Ich kehrte die Scherben zusammen. Wischte das Dunkelbier auf. Es roch sehr süßlich. Zwischen den kleinen Pausen, die das Erbrechen mir erlaubte, bat ich sie darum, die Stadtmission anzurufen. Sie war enttäuscht. Sie war korpulent. Jemand, den sie nicht kannte, würde mich ihr wegnehmen. Davor hatte sie Angst. Das war richtig. Eine Stunde später stand Wolfgang vor der Tür. Wolfgang - Alkoholiker, so stellte er sich vor. Ich ging auf sein Angebot ein, am nächsten Tag in die Stadtmission zu kommen. In die Gruppe. Ich sollte mich stellen. Über mich reden. Reinhardt - Alkoholiker. Ich schob das weit weg, aber ich ging auf die ersten Bedingungen ein: Keinen Tropfen mehr, kein Medikament mehr, in die Gruppe kommen und über mich reden. Der kalte Entzug, das sind Suppen, Säfte, Herzschläge die sich nicht wiederholen wollen, Schüttelschauer, Halluzinationen und immer wieder die Heimsuchungen durch die Körperöffnungen. Es ist ein Erbärmliches und auch Erbarmungswürdiges Schauspiel. Man ist Beteiligter an einem Stück, dass man selbst gerade schreibt, spielt, sogar lebt. Man will Publikum sein, doch es vergeht einem der Beifall. Die Kraft zu klatschen, die ist nicht vorhanden. Ich forderte für mich selbst wenigstens Linderung oder vielleicht Heilung. Mein Körper zahlte den Tribut, den der Verstand hatte entrichten müssen. Mein Verstand hätte verrückt werden müssen, um all das nicht mehr ertragen zu wollen. Er wollte nicht verrückt werden. Er ertrug es aber auch nicht mehr. lii dieser Nacht und am folgenden Tag schöpfte ich nicht nur Atem zwischen den Anfällen, ich schöpfte ein ganz wenig Mut und ein ganz wenig Hoffnung. Und die Wut auf mein kaputtes Leben wuchs. Kränkung und Liebesentzug. Ich habe mich doch nur nach Geborgenheit gesehnt. Ich wollte doch nur auch so sein, wie die anderen. Die Wohnung, die Arbeit und vor allem die Frau und die Kinder, so wie die anderen auch, -vielleicht ein wenig besser, ich hatte es vielleicht verdient. Genug ist genug: Kinderheim, Beruf, danach auf Montage In Leuna und die Neigung, den menschenfeindlichen Verwaltern einer absurden Ideologie zu verfallen. Liebe und ein Zuhause zu finden. Liebe durch Geben und Helfen und endlich ein Zuhause in mir wollte ich haben. Ich wußte damals nichts darüber. 24 Stunden später saß ich in der Gruppe, zerquält, weinend, zerknirscht. Ich wollte allem abschwören, doch das wollte keiner. Die Angst vor dem Nüchternwerden saß im Herzen fest. Auswege, Ausflüchte, Rückfall. Ich kannte das, alle kannten das. Mein erster tastender Schritt war die Abstinenzvereinbarung. Drei Monate ohne Alkohol. Jeder Tag könnte ein fest werden. Eines ohne Schnaps und Rückfall. Und es ging, von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag. Es lebte sich etwas anders, aber nicht unbedingt besser. Es war der Beginn. Danach das Bekenntnis im Betrieb, ich bin alkoholkrank. Später, ein Bekenntnis vor 500 Menschen, von einer Bühne in einer Nervenklinik. Es war absurd, aber es half. Dazu immer die neue Absprache im Verstand: Was willst du wirklich?. Was tust du jetzt, eben gerade denken?. Sei aufrichtig. Sei ehrlich mit dir selbst, das schadete niemanden. Mach es nur mit dir ab. Von diesem Standort aus immer die Konsequenz, was wird, greifst du zum ersten Gals. Trinke ich, so ist alles wieder anders. Nichts beginnt von vorn, alles geht vom alten Standort weiter, an der ich das letzte Glas getrunken habe. Es ist der Moment, eigentlich die Sekunde, in der ich das Glas zum Mund führe, da wäre alles wieder zu spät. Führe ich gedanklich die Flasche oder das Glas an den Mund. Was habe ich da vor? Heute weiß ich für den Augenblick sogar, wie ich leben soll. Das erste Selbstgebot ist der Inhalt aller Zehn Gebote für mich. Verletze ich mein erstes Gebot, so wird das Brechen aller Gebote sonst für mich zugänglich und normal. Ein nasses Trinkerleben ist ein erbärmliches, ein trauriges Leben. Keiner sollte so leben, doch jeder entscheidet das für sich ganz allein. Da kann niemand helfen, weder die Gesellschaft noch der Staat. Das ist ein Kinderglaube. Auch nur die Annahme ist irrig, weil es um meinen Leib geht, Nur der liebt, der kann helfen. Wer aber hilft dem Alkoholkranken, der sich doch gefälligst selber helfen könnte. Er muss doch nur aufhören mit dem Trinken - mehr nicht? Da ist es gut die Chance und das Angebot zu wählen, dass es in der Stadtmission, hier in Halle im Weidenplan. Weil es nur mit Liebe geht. Ein Kranker kann mich nicht kränken, habe ich mal gelesen und ich glaube, darauf kann man sich verlassen, zumindest hier in diesem Haus. In einer Zeit, die wahrlich bitter und düster war, war hier in diesem Hause Licht. Dafür danke ich den Helfern der Stadtmission. Ich danke der damaligen Gruppe, dafür danke ich Gott. Er spricht aus tausend Mündern überall und täglich zur mir, was ich soll und tun darf. Und, er meint es gut mit mir, so lange ich nicht trinke oder anderen Süchten nachgehe. So gesehen ist vieles, was ich heute tue, vernünftig. Was will ich mehr vom Leben? Zwei drei Sätze noch. Ich bin nicht nur so dankbar, weil ich leben darf. Ich bin dankbar all den Menschen, die Vertrauen zu mir haben. Ich habe eigentlich nur eines dafür anzubieten, das ich auch heute wie jeden Tag, wie schon seit zwanzig Jahren, nüchtern bleibe. Und, ich möchte bei all denen um Verzeihung bitten, die schon vor zwanzig Jahren meine Gefährten waren. Und auch bei denen, die unter meiner Sucht gelitten haben, bitte ich um Verzeihung. Danke sage ich auch heute, nach über vierzig Jahren Kapitulation in der Stadtmission